Monopolisierte Entscheidungsgewalt oder verteilte Autonomie? Entscheidungsfindung in einer digitalisierten Welt
In den letzten Jahrzehnten hat die Digitalisierung nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrungen und dabei eine Vielzahl interessanter Potentiale freigelegt, die zumeist unmittelbar mit neuen Informationsquellen, deren direkter und schneller Verfügbarkeit sowie der automatisierten Verknüpfung ehemals isolierter Systeme zusammenhängen. Insbesondere für Wirtschaftsunternehmen ist die Identifikation, Evaluation und Realisation geeigneter Potentiale von essentieller Bedeutung, da ein kontinuierliches Streben nach Optimierung und Effizienzsteigerung für ein Bestehen im fundamental kompetitiven Wirtschaftssystem unumgänglich ist.
Dabei kommt der Entscheidungsfindung eine besondere Rolle zu. Während optimale Lösungen grundsätzlich existieren und mathematische Verfahren zur Bestimmung einer solchen Lösung bekannt sind, ist der notwendige zeitliche Aufwand und die damit verbundenen Kosten oftmals nicht praktikabel. Dies wird insbesondere dann problematisch, wenn die als Entscheidungsgrundlage dienenden Informationen sich durch Unsicherheiten und insbesondere Fluktuation auszeichnen. Dabei kann die Frequenz der Fluktuation schnell die notwendige Zeit für eine etablierte, zentralisierte Entscheidungsfindung übersteigen. Zugleich wird durch die Vielzahl von verfügbaren Informationen die Frage aufgeworfen, welche Informationen für die Entscheidungsfindung einerseits notwendig sind, und andererseits durch ihre Beachtung zur Qualität der Lösung beitragen.
Diese Problematik wird insbesondere für produzierende Unternehmen deutlich, welche mit ihrer direkten Wertschöpfung für den Erhalt des Wohlstand unserer Gesellschaft bedeutsam sind. Durch die Digitalisierung hat eine Vielzahl von Sensoren Einzug in Produktionssysteme gehalten. Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren die Fluktuation von Preisen für Endprodukte, Rohstoffe und Energie stark erhöht. Durch die Covid-19 Pandemie wurde zudem die Empfindlichkeit langer Lieferketten und die zahlreichen Verflechtungen und Abhängigkeiten in der Produktion von hochentwickelten Produkten deutlich. Steigende Energiepreise werden derweil zu einem bedeutenderen Kostenfaktor, der für energieintensive Produktionsprozesse zu einem äußerst relevanten Planungsaspekt wird.
In dieser Umgebung zeichnen sich Informationen als Entscheidungsgrundlage insbesondere durch ihre Kurzlebigkeit aus. Etablierte Optimierungsansätze zur Entscheidungsfindung sind durch die Monopolisierung aller Entscheidungsgewalt charakterisiert, was die ganzheitliche Betrachtung des Entscheidungsproblem ermöglicht, und damit die Bestimmung einer optimalen Lösung bezüglich einer vorgegebenen Zielfunktion ermöglicht. Weiterhin ist die Implementierung derartiger Entscheidungsfindung relativ einfach, da ein einzelner Akteur basierend auf allen verfügbaren Informationen eine globale Entscheidung trifft. Diese Zentralisierung der Entscheidungsfindung erlaubt jedoch keine Parallelisierung, sodass dieser Ansatz für reale Entscheidungsprobleme oftmals äußerst zeitintensiv ist.
Die Fluktuation und Variabilität der zugrundeliegenden Informationen kann sich auf einem digitalisierten Markt schneller ändern, als dass optimale Entscheidungen gefunden werden können. Abhängig von dem Ausmaß an Fluktuation ist es möglich, dass die Entscheidungsgrundlage sich zum Zeitpunkt der optimierten Entscheidung soweit verändert hat, dass auch eine Korrektur nicht mehr möglich ist, und der gesamte Entscheidungsprozess erneut erfolgen muss.
Durch die Digitalisierung von Produktionssystemen, einzelner Maschinen und sogar den Produkten selbst ergeben sich jedoch auch neue technische Möglichkeiten. So genannte Cyber-physikalische Systeme (CPS) beschreiben Produktionsanlagen, die durch eingebaute Mikroprozessoren, Netzwerkschnittstellen und integrierter Sensorik in der Lage sind, ihren eigenen Zustand zu erfassen, in einem Netzwerk zu kommunizieren und koordinieren sowie durch die zusätzlich vorhandene lokale Rechenleistung zudem funktional in der Lage sind, eigene Entscheidung zu treffen – basierend auf lokalen, oder auch aus einem Netzwerk bezogenen Informationen. Dabei erzeugen CPS vielfältige Informationen, die alle Aspekte der jeweiligen Maschine betreffen und erlauben damit eine zuvor unmögliche Transparenz der Produktionsprozesse für die Steuerung und Analyse von Produktionssystemen.
Durch die Vielzahl potentieller Akteure, die dadurch in der Lage sind Entscheidungen zu treffen ist die etablierte Zentralisierung der Entscheidungsgewalt in der Produktionssteuerung in Frage gestellt. Bereits in der 1980er Jahren wurden verteilte Steuerungsansätze für Produktionssysteme erstmals diskutiert, eine Umsetzung war jedoch aufgrund der damalig damit verbundenen Kosten nicht praktikabel. Mit der weitläufigen Einführung von CPS in Produktionssystemen sind jedoch erstmals die technischen Anforderungen verteilter Steuerungsansätze erfüllt, die sich in ihren charakteristischen Eigenschaften von etablierten und zentralisierten Steuerungssystemen weitestgehend differenzieren. Neben der Verteilung beziehungsweise Monopolisierung der Entscheidungsgewalt arbeiten zentralisierte Entscheidungssysteme seriell, d.h. eine Zerlegung des Entscheidungsproblems benötigt eine subsequente Lösung der einzelnen Teilprobleme. In der verteilten Entscheidungsfindung ist es hingegeben möglich, derartige Teilprobleme auf eine Vielzahl geeigneter Akteure zu verteilen, welche diese Probleme parallel bearbeiten können.
Die Lösungen dieser Teilprobleme müssen jedoch zu einer globalen Lösung zusammengesetzt werden, was wiederum Kommunikation und Koordination zwischen den befähigten Akteuren voraussetzt. Dadurch steigt sich die Komplexität der Implementierung deutlich, da bei der zentralisierten Entscheidungsfindung aus der einen Lösung alle Entscheidungen ableiten lassen.
In der Praxis gibt es derzeit wenige Beispiele, in denen die Steuerung von Produktionssystemen auf verteilter Entscheidungsgewalt beruht. Ein prominentes Beispiel ist dabei die Fertigung von hochmodernen Halbleitern, die in ihrer Herstellung a priori unbestimmte Produktionspläne haben, da einzelne Produktionsschritte sich durch stark stochastische Ergebnisse auszeichnen und regulär mehrfach durchgeführt werden müssen, bis die gewünschte Qualität erreicht ist. In der Literatur hingegen beschäftigen sich eine Vielzahl von Forschungsfeldern mit den respektiven Vor- und Nachteilen von zentralisierten und verteilten Steuerungsansätzen. Während zahlreiche Forschungsartikel einen tiefen Einblick in spezielle Steuerungsansätze für bestimmte Produktionsnetzwerke bieten, so fehlt ein übergreifender Rahmen, welcher einen ganzheitlichen Vergleich zwischen diesen fundamentalen Steuerungsansätzen erlauben würde. Insgesamt wird dabei deutlich, dass unter gegebenen technischen Voraussetzungen sowohl zentralisierte als auch verteilte Steuerungsansätze prinzipiell für alle Produktionssysteme möglich sind.
Um die sich darauf ergebene fundamentale Frage nach der optimale Verteilung und Zuordnung von Entscheidungsgewalt für Produktionssysteme zu untersuchen, wird in Distributing decision-making authority: autonomous entities in manufacturing networks [1] der Begriff der Entscheidungsgewalt in dem Kontext der Produktionssteuerung eingeführt (engl. decision-making authority), um den Entscheidungsspielraum eines autonomen Systems zu beschreiben. Das betrachtete Spektrum reicht dabei von absolut zentralisierten Entscheidungssystemen, in denen alle Entscheidungsgewalt von einem einzelnen Akteur monopolisiert ist, hin zu absolut verteilten Entscheidungssystemen, in denen jeder potentiell autonome Akteur im Rahmen individueller Entscheidungsgewalt lokal eigene Entscheidungen treffen kann.
In der Literatur sind zahlreiche Szenarien beschrieben, in denen ein spezieller Ansatz für ein bestimmtes Produktionsszenario besonders geeignet ist. Um erstmals eine ganzheitliche Betrachtung der Eignung von zentralen und verteilten Steuerungsansätzen für Produktionssysteme zu ermöglichen, ist zunächst die Identifikation aller Einflussfaktoren auf die jeweilige Eignung und Leistungsfähigkeit der verschiedenen Steuerungsansätze nötig. Diese Einflussfaktoren reichen dabei von der Größte der Produktionsanlage, über die Komplexität der Produkte zur Zuverlässigkeit der Produktionssysteme. Die zahlreichen Einflussfaktoren werden in Rahmen der Dissertation dabei zu Umgebungsvariablen standardisiert, und anschließend in jene der strukturellen Komplexität und jene der Informationsvariabilität kategorisiert. Basierend auf diesen Umgebungsvariablen wird anschließend ein Scheduling Complexity Framework definiert. In diesem Rahmen ist eine Beurteilung einer Produktionsanlage, charakterisiert durch die Umgebungsvariablen, hinsichtlich der Eignung für zentralisierter und verteilter Steuerung möglich. Dazu leitet der Rahmen ein Maß für die Komplexität der erforderlichen Ablaufplanung her, die sich in der notwendigen Rechenzeit widerspiegelt.
Basierend auf Erkenntnissen der Literatur bezüglich spezifischer Umgebungsvariablen konnten erste Hypothesen über die Relevanz dieser Umgebungsvariablen auf die Komplexität der Ablaufplanung aufgestellt werden. Um diese Einflüsse systematisch zu evaluieren, und um die Bedeutung der Komplexität der Ablaufplanung eines Produktionssystems auf die Eignung von zentralen und verteilten Steuerungsansätzen für ebendieses zu bewerten war die Anwendung eines flexiblen Simulationssystem das geeignete Werkzeug. Aufgrund dieser Anforderungen an die Simulation wird dabei auf eine selbst-entwickelte, Multiagentensystem basierende, diskrete Ereignissimulation zurückgegriffen. Dabei werden alle relevanten Akteure eines Produktionssystems als Agenten repräsentiert, die dann für zentralisierte Steuerungsansätze als reine Befehlsempfänger agieren können, oder für verteilte Steuerungsansätze ihren zuvor zugeordnetem Grad an Entscheidungsgewalt autonom ausüben können. Diese Methodik ermöglicht durch die inhärente Flexibilität der Agenten eine Vielzahl von Entscheidungsansätzen zu vergleichen, da verschiedenste Szenarien und die unterschiedlichen Fähigkeiten von realen CPS-basierten Produktionssystemen abgebildet werden können.
Durch umfangreiche Simulationen konnte dabei der Einfluss aller kategorisierten Umgebungsvariablen auf die Komplexität der Ablaufplanung gezeigt werden. Sowohl die Vergrößerung der strukturellen Umgebungsvariablen wie der Größe der Produktionsanlage, die Anordnung der Maschinen und Komplexität der Produkte als auch eine gesteigerte Variabilität der Information wie etwas unzuverlässige Maschinen und fluktuierende Auftragseingänge erhöhen die Komplexität der Ablaufplanung. Diese Komplexität der Ablaufplanung spiegelt sich dabei direkt in der benötigten Rechenzeit der jeweiligen Steuerungsansätze wieder. Dabei wird insbesondere deutlich, dass zentralisierte Steuerungsansätze ein geringes Maß an Komplexität der Ablaufplanung tolerieren können, und nur in derartigen Fällen der überlegene Ansatz sind. Übersteigt die Komplexität der Ablaufplanung jedoch ein bestimmtes Maß, stark geprägt durch die Frequenz und Zuverlässigkeit der Informationsgrundlage der Planung, so können verteilte Steuerungsansätze deutlich bessere Leistungscharakteristiken sowohl hinsichtlich der Güte der Lösung, der benötigten Rechenzeit und insbesondere bezüglich der Widerstandsfähigkeit gegenüber Störungen aufweisen.
Das durch die Simulationen validierte Scheduling Complexity Framework ist damit ein zentrales Resultat der Dissertation, dessen Bedeutung über die Produktionsforschung hinaus ragt. Neben der Forschung kann der Rahmen dabei von Anwendern in der Industrie genutzt werden, um eine erste Abschätzung über die Eignung von zentralisierter und verteilter Entscheidungsfindung für existierende und geplante Produktionssysteme zu erhalten.
Dies ist insbesondere aufgrund des oftmals gescheuten initialen Aufwands für die Implementierung von verteilten Steuerungsansätzen wichtig, da die technischen Anforderungen durch moderne Produktionssysteme basierend auf CPS bereits erfüllt sind. Die Verteilung der Entscheidungsgewalt auf autonome Akteure kann in modernen Produktionssystemen weitere Potentiale ausnutzen, die über die Transparenz digitaler Zwillinge hinaus gehen.
Für eine optimierte Entscheidungsfindung sind die strukturelle Komplexität und die Variabilität der Informationsgrundlage fundamental für die geeignete Zuordnung der Entscheidungsgewalt. Technisch fähige Akteure in einem Entscheidungssystem können durch autonome Entscheidungen für Teilprobleme basierend auf lokalen und hochaktuellen Informationen in Koordination geeignete Lösungen bestimmen, und dabei die Leistungsfähigkeit zentralisierter Entscheidungsfindung mit monopolisierter Entscheidungsgewalt übertreffen.
Die Leistungsfähigkeit verteilter Entscheidungswelt und autonomen Akteuren wird dabei insbesondere deutlich, wenn das Entscheidungsproblem durch die zunehmende Verfügbarkeit von Informationen, deren hochfrequente Aktualisierung sowie kurze Zeiträume zur Entscheidungsfindung charakterisiert sind. Die Herausforderung in immer kürzer werdender Zeit und unter fluktuierender Informationsgrundlage schnell gute Entscheidungen zu treffen beschränkt sich jedoch nicht nur auf produzierende Wirtschaftsunternehmen, sondern findet sich in zahlreichen Bereichen unserer Gesellschaft unterschiedlich ausgeprägt wieder. Die in der Dissertation erarbeiteten Richtlinien für die Leistungsfähigkeit und Eignung zentralisierter und verteilter Entscheidungsfindung können dabei auch in anderen Bereichen eine erste Orientierung bieten.
Quellen
- (2022): Distributing decision-making authority: autonomous entities in manufacturing networks. Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2022, (Veröffentlicht auf dem Publikationsserver der RWTH Aachen University; Dissertation, Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen, 2022).